Sie verdient es, dass ich diese Geschichte erzähle.
Ich lernte sie in meiner frühesten Kindheit kennen… und seitdem war sie wie selbstverständlich da. Da war das, was wir heute oft ein Klischee nennen: Wenn ich Angst hatte, hielt sie meine Hand und wenn ich keine Wege mehr fand, zeigte sie mir die richtigen. Das war so einfach damals, als die Wolken spannender waren als das Display in dem sie sich heute spiegeln. Sie war ein fantastischer Begleiter, inspirierend und immer wieder beruhigend. Denn ruhig – oft war ich das ja nicht, wie sollte ich denn auch in all dem äußeren Lärm?
Aber der Lärm wurde immer lauter.
Das Problem mit gefühlten Selbstverständlichkeiten wiederholt sich überall: Es wird vergessen, wie wertvoll sie sind. Egal was ich tat, sie war ja immer da. Wir spielten zusammen im Garten unter den Johannisbeerbüschen, wir machten Reisen in fremde Straßen und lernten gemeinsam das Leben mit all seinen verrückten Farben kennen. Die ersten Jahre waren eine einzige große Party – so ist das eben, wenn kleine Kinder in Bewegung geraten und eine Baumrinde so viele Facetten hat, dass man vor Neugier platzen könnte.
Und weil auch ihre Stimme immer da war, hörte ich ihr immer weniger zu. Ich dachte, dass ich schon alles wüsste, was sie mir zu sagen hätte. Sie hat noch versucht, mir Zeichen zu geben, als die Selbstverständlichkeit sich selbst zerstörte. Aber das sah ich ja nicht. Spätestens die Schule brachte mir bei, die Augen nicht auf die Wolken zu richten, sondern nach vorn – dort wo die Ziele sind.
Die Facetten wurden zur Baumrinde, die Baumrinde zum Baum, der Baum zur Natur. Und die Natur war ja auch immer da, genau wie sie. Ob man sie nun beachtete oder nicht. Das glaubte ich – und das war ja auch normal.
Und so habe ich sie aus den Augen verloren – es war die Zeit, als ich meinem Kopf die Oberhand schenkte. Es kamen so viele Menschen in mein Leben, die mir dies und das rieten, mich irgendwo hin schubsten oder mir sagten, was ich zu tun hätte… sie konnte mit all dem nichts anfangen. Sie lebte nicht in dieser Welt, und so sahen wir uns immer seltener und ich vergaß sie nach und nach. Und nicht nur sie, sondern auch das, was sie mir bedeutet hatte. Ich erinnerte mich manchmal nur noch an das schöne ruhige Gefühl, was sie in mir auslöste. Aber, ach, so sind Kinder eben und später werden andere Dinge wichtig. Das ist der Lauf der Menschen.
Da die Erinnerungen verblassten, fehlte mir auch nichts. Die Stelle, die sie leer ließ, wurde in all den Jahren auch selbstverständlich und so bemerkte ich kein Vermissen. Oft bin ich an ihr vorbeigelaufen, obwohl sie immer nach mir rief, wenn sie mich in kurzen Momenten sah. Anscheinend kannte sie mich noch. Aber ich habe sie nicht bemerkt, weil ich Aufgaben und Ziele hatte.
Nach dem totalen Zusammenbruch war ich allein.
Diese Welt hatte mich zwei Mal umgehauen:
Am Anfang mit ihrer Schönheit.
Und viele Jahre später mit ihren Schattenseiten.
Der Kollaps kam wie aus dem Nichts. Plötzlich, nach einem Tag voller Zielen, fiel ich um. Ich sah noch kurz die Wolken und dann nichts mehr. Als ich aufwachte, begegnete mir ein neues Klischee: Ich war im Krankenhaus und ein Arzt fragte mich, ob ich ihn höre. Ich sagte nein. Sonst war da niemand. Alle waren mit Aufgaben und Zielen beschäftigt.
In den Tagen darauf bekam ich Besuch von einigen. Sie sprachen Floskeln und äußerten Emotionsworte. Ich fühlte mich nicht berührt. Sie waren alle nett und es war schön, dass sie da waren.
Ich begann zum ersten Mal seit Langem darüber nachzudenken. Und irgendwann kamen die Gedanken auf das, was die Gefühle so wie immer schon längst wussten:
Mir fehlte: Sie.
Und dann schlief ich wieder ein.
Als ich aufwachte, war sie da. Sie kam zu mir, obwohl ich sie so ignoriert hatte. Sie kannte mich noch. Ich sah sie erst verschwommen, so ganz bei Bewusstsein war ich ja noch nicht. Sie hatte in all der Zeit auch weitergelebt und ich erkannte sie nicht auf Anhieb. Aber ohne Worte und Lautstärke schaffte sie sofort das, was alle anderen nicht schafften: Sie gab mir Ruhe und Zuversicht und Selbstverständlichkeit. Allein, dass sie sich an mich erinnerte, erfüllte mich mehr als jedes Ziel. Mir war nicht bewusst, wie sie das machte – dieses Gefühl kam nur durch ihr Da-sein. Mit ihr wurde ich gesund und durch sie wurde mir bewusst, dass Momente viel wertvoller sind als Ziele, so wie es früher unter den Johannisbeerbüschen immer war.
Nur selbstverständlich war das jetzt nicht mehr, seit ich das Gegenteil kannte.
Ich habe sie nie wieder verloren.
Sie hat mein Leben neu gemalt, obwohl ich sie vergessen hatte.
Und obwohl ich nie wusste, dass ich sie vermisse.
Wie sehr ich sie vermisste.
Es gibt unglaublich komplizierte und komplexe Dinge. Die Facetten einer Baumrinde, die Struktur einer Wolke und natürlich die Aufgabe, in der heutigen Zeit zu leben.
Aber es gibt auch einfache Dinge, die so vollkommen klar sind, wenn man nicht nur das Klischee in ihnen sieht, sondern ihre wahre Bedeutung.
Sie ist genau das, sie ist so ein eindeutiger Fall:
Wenn sie bei mir ist, bin ich glücklich.
Sie … die Liebe zu mir selbst.
(C) Martin Cordsmeier