„Die Menschen schließen aus dem, was sie sehen,
auf das, was sie nicht sehen.“
(Peter Hohl)
Das Ei im sterbenden Körper war die ganze Zeit da. Es wurde nur nicht bemerkt, denn es war verschlossen und konnte sich nicht preisgeben. In seinem Versteck sah es die Welt nur durch die Augen seiner Hülle. Doch es sah etwas ganz anderes als Sie.
Es sah bunte Farben, wo Sie nur Chaos wahrnahm.
Es hörte Melodien im Gemurmel und Wahrheiten in der Lüge.
Es spürte Emotionen, wo Sie ignorierte.
Und es lernte Dinge, deren Existenz Sie nicht ahnte.
Wenn Sie schlief, war es wach.
Die Welt zeigte sich, weil Sie sie nicht mit Alltag übertönte.
Wenn Sie wach war, schlief es.
Das, was Sie Alltag nannte, war Entspannung vom Fühlen und Denken.
Oft wollte es sich mit Ihr bekannt machen. Es schrie und zappelte. Doch die Hülle bemerkte nur Unruhe und Bauchschmerzen, wogegen es Mittel gab.
Es wollte raus und klopfte von innen gegen die Schale, die mit allem gestützt war, was Sie hatte: Regeln, Überzeugungen, Gedanken und vor allem: Den Glücks-Scheinen.
„Es geht mir gut“ und „irgendwann werde ich“ nannte Sie sie.
Die „Es geht mir gut“s waren schlimm. Sie waren zur Stelle, wenn Sie spürte, dass etwas fehlt. Es hätte Ihr gern Wege gegeben – es wäre bereit gewesen, auf seiner ständigen Suche nach Platz. Doch kurz bevor es Antworten auf ungestellte Fragen geben konnte, kamen die „Es geht mir gut“s und führten zu Stille ohne Ruhe.
Die „irgendwann werde ich“s waren schlimmer, denn sie störten die stillen Momente. In Zweifeln versunken dachte die Hülle in ihrer offenen Gegenwart über die unerreichbare Zukunft nach. Das tat Sie oft. Es empfing die Bilder Ihrer Gedanken, sie sahen aus wie Realität, nur nicht die jetzige. Für Sie war es ein Zufluchtsort. Die Möglichkeit der Vorstellung ersetzte die Pflicht, etwas zu tun.
Und so hatte es viel Zeit. In seiner kleinen Welt tat es all das, was Sie nur wollte. Es ließ die Emotionen zu, die Sie ignorierte. Es sah Details, an denen Sie vorbei lief. Und unbemerkt von den Hüllen verband es sich mit anderen, jedes Mal wenn es Nähe gab.
All das blieb gespeichert. Es fühlte sich wohl in all den Jahren, die es er-leben durfte und die in der Enge soviel Weite zeigten….
Denn während seine Hülle es spazieren trug und Pläne machte, spielte sich in Ihr in aller Enge das Leben ab. Und jetzt, kurz vor dem Aufbruch, wo alles still ist und es keine Pläne mehr zu machen gibt, bemerkt Sie es.
Die ganze Zeit hatte Sie nur nach außen gesehen und nach außen gehört. Nun, wo dort nur noch Leere war, senkten sich Ihr Gehör und Ihr Blick nach innen und bemerken ein zerkratztes Ei, in dem es unversehrt und optimistisch geblieben ist.
Wir hören ein Klopfen und lassen es raus.
Das Kind in uns, das nun zusammen mit seiner Hülle stirbt.
(C) Martin Cordsmeier